Als sich Maria Elena Hernández entschloss, dem Wiederaufforstungsprogramm des mexikanischen Präsidenten beizutreten, empfahlen die Experten der Regierung ihr, erst einmal alle Bäume auf ihrem Grundstück zu fällen. Ihr Anwesen war nicht kahl genug, um in das Programm aufgenommen zu werden.
Nur wer nachweisen kann, dass er 2,5 Hektar Brachland, von Monokulturen ausgelaugte Flächen oder abgeholztes Gelände besitzt, darf sich in das Programm Sembrando Vida (Leben säen) einschreiben. Doch diese Kriterien erfüllten nur wenige der Bauern von Escárcega, einer Stadt im Süden der mexikanischen Halbinsel Yucatán. »Viele haben ihr Land gerodet, um teilnehmen zu können«, bestätigt Abrahám Sánchez, dessen Grundstück neben dem von Hernández liegt.
Die Regierung zahlt den Bauern jeden Monat 5000 Pesos, rund 220 Euro, wenn sie an Sembrando Vida teilnehmen. Das ist viel Geld für eine mexikanische Bäuerin, selbst mit Bürojobs in der Stadt verdienen die Leute oft weniger. Deshalb folge Hernández der Aufforderung zur Rodung.
Sembrando Vida ist das wichtigste politische Projekt des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Mit seiner Hilfe will er seiner Partei Morena die Macht über das Ende seiner Amtszeit 2024 hinaus sichern.
Der Präsident habe das Konzept bereits vor seinem Wahlsieg 2018 eigenhändig zu Papier gebracht, versichert Raúl Paulin, der für Sembrando Vida zuständige Staatssekretär. Linkspopulist López Obrador sieht in dem Programm eine Allzweckwaffe, mit der er das Klima schützen, Abwanderung verhindern und die Macht der Drogenkartelle eindämmen will. Zugleich plant die Regierung, mit dem Programm in den lukrativen internationalen Ablasshandel mit CO2 -Krediten einsteigen.
Weite Teile Mexikos werden von einer schweren Dürre geplagt, in einigen Regionen wird das Trinkwasser knapp. Zugleich zerstören Bauern, illegale Holzfäller und Rinderzüchter die letzten verbleibenden Urwälder – ein Problem, das Mexiko mit den Amazonas-Anrainerstaaten in Südamerika teilt. Wenn Sembrando Vida erfolgreich ist, könnte es daher auch Nationen wie Brasilien als Vorbild dienen.
Was das Programm für Schwellenländer so verführerisch macht, ist seine sozialpolitische Komponente. Denn die Wiederaufforstung ist nur ein Aspekt von Sembrando Vida. »Das Programm legt die Basis dafür, dass die Bauern von ihrem Land gut leben können, ohne die Umwelt zu zerstören«, sagt Staatssekretär Paulin. Es ist daher im Wohlfahrtsministerium angesiedelt, nicht im Umweltressort.
Mexikos Bauern bestellen ihre Felder oft noch mit Ochsenkarren und Pflug. Für Traktoren und moderne Erntetechnik fehlt ihnen das Geld. Mais aus den USA ist billiger als das einheimische Getreide – Tortillas, das Grundnahrungsmittel der Mexikaner, werden heute oft mit US-Mais gebacken.
Selbst das Militär wird für die Wiederaufforstung eingespannt
Viele Bauern geben ihre Höfe deshalb auf und suchen ihr Glück in der Stadt oder als irreguläre Migrantinnen und Migranten in den USA. Weite Landstriche sind praktisch entvölkert. Drogenkartelle nutzen die Misere aus, um ganze Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen . Immer öfter bedrohen sie auch Mitarbeiter von Sembrando Vida.
Etwa 420.000 Bauern haben ihre Parzellen bislang in dem Programm eingeschrieben, über eine Million Hektar sollen mithilfe des Programms aufgeforstet werden. Sie erhalten Samen, Setzlinge und organischen Dünger und werden von Agronomen beraten. Ihre Produkte können sie frei verkaufen. Allein in diesem Jahr kostet das Programm dem Staat über 1,4 Milliarden Dollar.
Bis 2024 will die Regierung eine Million Hektar mit Bäumen und Nutzpflanzen aufforsten; 700 Millionen seien bereits gepflanzt. Die Hälfte sind Obstbäume, die den Bauern eine neue Lebensgrundlage sichern sollen. Die andere Hälfte besteht aus örtlichen Spezies, mit denen die zahlreichen abgeholzten Flächen im Land begrünt werden sollen.
In Treibhäusern ziehen die Teilnehmer von Sembrando Vida Setzlinge für ihre Ländereien. Selbst das Militär hat der Präsident für die Wiederaufforstung eingespannt: An der Grenze zu Guatemala betreiben die Streitkräfte die wahrscheinlich größte Baumschule des Kontinents. Unter den Augen der Soldaten gedeihen hier sechs Millionen junge Pflanzen.
In der Nähe ernten Migranten, die auf dem Weg in die USA in Mexiko hängen geblieben sind, auf einer staatlichen Farm Kakaofrüchte. Als Gegenleistung erhalten sie für ein Jahr eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Die Arbeiter kommen aus Honduras, Nicaragua, El Salvador, Haiti und Kuba.
Im Schatten eines Verwaltungsgebäudes sitzen zwei Honduranerinnen, sie sind ausgebildete Krankenschwestern. Ihren Namen möchten sie nicht nennen; sie haben Angst vor den Kriminellen, die sie aus ihrer Heimat vertrieben haben. Sie hatten Dienst in einem Krankenhaus, als zwei schwer verletzte Mitglieder einer Bande eingeliefert wurden. So schildern sie es. Der Boss der Gang zwang sie, die beiden zu behandeln, sie verstarben dennoch. »Um vier Uhr morgens bekamen wir Drohanrufe, dass zur Vergeltung alle Ärzte und Pfleger umgebracht würden«, erzählt eine der beiden.
Viele Migranten ziehen es vor, in Mexiko zu bleiben
Rasch rafften sie ein paar Sachen und etwas Geld zusammen und machten sich auf den Weg nach Norden. In der mexikanischen Grenzstadt Tapachula beantragten sie Asyl, jetzt warten sie auf ihre Papiere. Bis es so weit ist, arbeiten sie für Sembrando Vida. Monatlich erhalten sie rund 250 Euro. »Ich will in Mexiko bleiben«, versichert die Jüngere der beiden. »Hier gibt es Arbeit, und ich kann meine Söhne nachholen«.
Etwa 450 Migranten arbeiten auf der Farm. López Obrador preist das Programm als Vorbild für die USA. Auf dem von US-Präsident Joe Biden einberufenen Klimagipfel im April empfahl er es als Rezept gegen den Klimawandel und Lösung für die Migrationskrise. Er hat das Programm nach Honduras und El Salvador exportiert; ein Abkommen mit Guatemala ist unterzeichnet. Mittels Sembrando Vida sei es möglich, drei Milliarden Bäume in der Region zu pflanzen und damit 1,2 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, versichert López Obrador.
Im Oktober zeigte er John Kerry, dem Sonderbeauftragten der US-Regierung für den Klimawandel, ein Sembrando-Vida-Projekt im südlichen Bundesstaat Chiapas. »Wir erkennen an, dass diese Wälder eine Quelle des Wohlstands und Symbol für Mexikos Führungsrolle in einem kritischen Moment für den Klimawandel sein können«, sagte Kerry. Finanzielle Zusagen ließ er sich jedoch nicht abringen. Den Vorschlag der Mexikaner, den Mittelamerikanern Arbeitsvisa anzubieten, wenn sie bei der Wiederaufforstung mitmachen, lehnen die Amerikaner ab – sie sind gegen eine Vermischung des Migrationsthemas mit dem Klimawandel.
Diese zögerliche Haltung ist verständlich, denn López Obrador hat bislang wenig Interesse am Klimaschutz gezeigt. Er setzt unverdrossen auf fossile Brennstoffe; im staatlichen Ölkonzern Pemex sieht er den Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. In López Obradors heimatlichem Bundesstaat Tabasco errichtet der Konzern gerade eine gigantische Raffinerie.
Hinzu kommt, dass Sembrando Vida zunächst zu einer Beschleunigung der Abholzung geführt hat. Einer Studie der internationalen Umweltorganisation World Resources Institute (WRI) zufolge hat das Programm bei seiner Implementierung vor zwei Jahren zum Verlust von insgesamt 73.000 Hektar Vegetation geführt. Die Forscher glichen die Anzahl der Parzellen und die Größe der Bezirke Gemeinde für Gemeinde mit der Information von Global Forest Watch ab, einer Onlineplattform, die weltweit die Entwicklung der Wälder überwacht.
»Seit Ende 2018 haben wir beobachtet, dass viele Landbesitzer ihre Grundstücke rodeten, um an dem Programm teilzunehmen«, sagt José Iván Zuñiga, der die Studie koordiniert hat. Unter ihnen waren auch die Bäuerin Hernández und ihre Nachbarn in Escárcega.
Hernández besitzt 20 Hektar Land, das Grundstück hat sie von ihren Eltern geerbt. Ein Großteil ist Dschungel, im Wald produziert sie Ökohonig von wilden Bienen. Auf den Nutzflächen pflanzt sie mit Unterstützung von Sembrando Vida Mangos, Avocados und andere Früchte.
Früher standen hier auch Urwaldbäume. Sie fielen der Säge zum Opfer. »Ich durfte das Holz nicht verkaufen«, klagt die Bäuerin und deutet auf Stümpfe und herumliegende Stämme, die in der Sonne verrotten.
Eigentlich wollte sie ihr Land veräußern, weil es immer schwieriger geworden sei, von der Landwirtschaft zu leben, erzählt sie. Doch dann gewann López Obrador vor drei Jahren die Präsidentschaftswahl. Er war ihr Favorit. Als er Sembrando Vida vorstellte, entschloss Hernández sich, ihre Scholle zu behalten und dem Programm beizutreten.
Der Streit um Sembrando Vida spaltet das Land
»Als ich das erste Geld erhalten habe, war ich glücklich«, erinnert sie sich. »Zum ersten Mal schien es, als ob sich die Regierung wirklich um uns Bauern kümmern würde«. Deshalb nahm sie auch in Kauf, dass sie ihre Bäume fällen musste. Heute bereut sie ihre Entscheidung: »López Obrador hat uns betrogen«.
Der Streit um Sembrando Vida spaltet das Land – so wie alle Projekte des konfliktfreudigen Linkspopulisten. Journalisten des US-Wirtschaftsdienstes Bloomberg, die über die negativen Folgen des Programms berichteten, watschte er in seiner morgendlichen Pressekonferenz ab.
»Sembrando Vida fördert nicht die Abholzung«, bekräftigt Staatssekretär Paulin. Berichte über die Zerstörung von 73.000 Hektar bezeichnet er als »ungeheuerlich«: Zu Beginn des Programms 2019 seien überhaupt nur 25.000 Hektar eingeschrieben gewesen.
Vertreter der Indigenen-Organisation CRIPX, die die Mayas im Süden der Yucatán-Halbinsel vertritt, bestätigen dagegen, dass viele Bauern ihre Ländereien gerodet hätten, um in das Programm aufgenommen zu werden. »Mittlerweile wurde der Raubbau gestoppt«, sagt Romel Ruben González Díaz, ein Anführer der Organisation.
Doch der Schaden ist angerichtet, und er lässt sich nur schwer wieder gutmachen. Denn er summiert sich zu einer Reihe weiterer Probleme, die das Programm kompromittieren.
»Sembrando Vida wurde überstürzt umgesetzt«, sagt Sergio Lopez Mendoza, Professor für Ökologie und Umweltschutz an der Universität für Wissenschaft und Künste des südlichen Bundesstaats Chiapas. »Die Bauern wurden unzureichend informiert«. Nicht einmal die Regierung habe einen Überblick über das Programm: »Es gibt keine geografischen Referenzdaten«. Es sei daher praktisch unmöglich zu wissen, welchen Erfolg das Projekt habe.
Forscher Armando Bartra von Coneval, einer Institution zur Überwachung staatlicher Sozialprogramme, die auch Sembrando Vida auswertet, pflichtet ihm bei. Es gebe ein »ernsthaftes Problem mit der Vertrauenswürdigkeit der Regierungsinformationen«. Tatsächlich verfügt die Regierung nicht einmal über Satellitenaufnahmen, mit deren Hilfe sich der Baumbestand in den betroffenen Regionen überprüfen lasse.
Wie unübersichtlich die Lage ist, lässt sich an den Landstraßen im mexikanischen Südosten besichtigen. Dort reiht sich über Hunderte von Kilometern eine Sembrando-Vida-Pflanzung an die nächste. Auf manchen Grundstücken ist der Boden schwarz von Brandrodungen, andere florieren.
Wo das Programm Erfolg hat, ist das auch das Verdienst der vom Staat bezahlten Agrarexperten, die die Bauern beraten. Doch in vielen Gegenden fehlen kompetente Techniker.
Bäuerin Hernández lebt mit dem Agraringenieur Román Ochoa zusammen, der früher als landwirtschaftlicher Berater für Sembrando Vida gearbeitet hat. »Viele Jobs werden unter Freunden vergeben, nicht nach Qualifikation«, klagt er. »Mein Chef hatte nicht einmal eine abgeschlossene Schulbildung«.
Bauern beschweren sich, dass sie zum Anbau von Bäumen und Früchten gezwungen werden, die nicht in der Region heimisch sind. Auch synthetische Pflanzenschutzmittel, die eigentlich verboten sind, kämen weiterhin zum Einsatz. »Viele Teilnehmer benutzen Glyphosat, um ihre Ländereien von Unkraut zu befreien«, sagt Bäuerin Hernández.
Fehler würden korrigiert, verspricht Lopez Obrador. »Das Programm an sich ist nicht schlecht«, räumt Bauer Sánchez ein, Hernández' Nachbar. Auch Kritiker versichern, dass Sembrando Vida vom Konzept her richtig sei: Es packe die Probleme an der Wurzel, indem es den Bauern die Mittel an die Hand gebe, aus eigener Kraft aus dem Elend zu kommen.
Als Vorbild für das gesamte Programm führt die Regierung Besuchern einige Gemeinden in der Nähe der guatemaltekischen Grenze vor. Dort bauen Maya-Indigene an den fruchtbaren Hängen eines Vulkans Kaffee an.
»Früher sind die meisten unserer Söhne und Töchter in die USA emigriert«, berichtet Cenón Escalante Pérez, Ortsvorsteher des Weilers Dámaso Escalante, der selbst drei Jahre illegal in Kalifornien gearbeitet hat. »Heute bleiben die Jungen.« Dafür ist neben Sembrando Vida auch das Sozialprogramm »Jóvenes para el futuro« (»Jugendliche für die Zukunft«) verantwortlich, das den Jugendlichen monatlich 4300 Pesos zahlt, etwa 185 Euro.
Nicht alle teilen diese positive Einschätzung. Nach einer zweistündigen Autofahrt über Bergpisten erreichen die Besucher die Siedlung Eureka, die seit zwei Jahren im Rahmen von Sembrando Vida organischen Kaffee, Früchte und Bäume pflanzen.
Die Bauern loben zunächst das Programm. »Es hat der ganzen Region einen Aufschwung beschert«, sagt Marcos Hermelindo Díaz Gálvez, einer der Anführer. »Doch die Jungen wandern weiter ab.«
Dann lassen sie ihrem Unmut freien Lauf. Der Kaffeepreis sei im Keller, sie müssten die Produktion aus eigener Tasche mitfinanzieren: »Wir arbeiten viel und verdienen wenig.«
Es fehle der Zugang zu den Märkten. »Wir sind weiterhin gezwungen, an die Coyotes zu verkaufen«, sagt Díaz Galvez – so heißen die Zwischenhändler, die mit ihren Lastwagen die Dörfer abklappern. »Wir brauchen Maschinen, um den Kaffee zu rösten, und Transportmöglichkeiten.« Vor allem sorgen sie sich, dass das Programm zeitlich begrenzt sei: »Was geschieht in ein paar Jahren, wenn die Regierung wechselt?«
Das ist auch die Sorge der Wissenschaftler, die das Programm begleiten. »Es dauert mindestens 25 bis 30 Jahre, bis das Projekt Früchte trägt«, sagt Forscher Zuñiga von der Umweltorganisation World Resources Institute. So lange dauert es im Schnitt, bis die Bäume ausgewachsen sind, und so lange müssten auch die Bauern an dem Programm teilnehmen. In Mexiko neigt jeder neue Präsident jedoch dazu, Initiativen seines Vorgängers einzustampfen und neue zu erfinden.
Bäuerin Maria Elena Hernández in Escárcega, die anfangs von Sembrando Vida begeistert war, hat jedenfalls alle Illusionen verloren. Sie hat sich mit anderen Bauern der Region zusammengeschlossen und organisiert den Widerstand. Die Regierung drohe jetzt, sie aus dem Programm auszuschließen, klagt sie. »Nachts kommen Lastwagen voller Baumstämme aus dem Dschungel«, sagt Hernández. Niemand traue sich, den illegalen Holzfällern Widerstand zu leisten: »Sie werden von bewaffneten Maskierten begleitet.«
DER SPIEGEL Bäuerin Hernández, gefällte Bäume: »Der Präsident hat uns betrogen« AFP Mexikanischer Präsident López Obrador, US-Klimabeauftragter Kerry (beim Besuch eines Projekts von Sembrando Vida im Oktober): »Vom Land leben, ohne die Umwelt zu zerstören« Copyright 2021 The Associated Press. All rights reserved Sembrando-Vida-Projekt in Yucatán: »Aufschwung für die Region« Copyright 2021 The Associated Press. All rights reserved Für Sembrando abgeholzte Fläche in Yucatán: Erst roden, dann aufforsten
Präsident López Obrador will mit der Kampagne »Sembrando Vida« den Klimawandel, die Migrationskrise und die Drogenkartelle gleichzeitig bekämpfen. Eine bahnbrechende Idee? Oder ein großer Schwindel?